Mit Anfang zwanzig hatten ein Freund und ich eine Idee: Ein paar Tage mit dem Zug durch die Schweiz zu reisen und Briefe an unsere zukünftigen Ichs zu schreiben. Am Ende der Reise legten wir unsere Briefe in eine Kiste und vergruben sie irgendwo. Fünf Jahre später würden wir an diesen Ort zurückkehren, die Kiste holen und lesen, was unser Vergangenheits-Ich uns zu sagen hatte.
Wir kehrten fünf Jahre später tatsächlich zurück. Aber die Briefe bekamen wir nie zu Augen. Wir konnten die vergrabene Truhe einfach nicht finden. Sie war irgendwo in einem Wald im Centovalli in der schweizerisch-italienischen Grenzregion vergraben. Wir hatten es damals eilig gehabt, unseren letzten Zug nach Hause zu erwischen und hatten die Kiste einfach irgendwo im Boden eingegraben. Wir würden uns bestimmt erinnern, wo, dachten wir.
Natürlich hatten wir fünf Jahre später keine Ahnung mehr.
Wir versuchten, mit unseren zukünftigen Ichs zu kommunizieren. Wir schrieben lange Briefe über unser Leben, wie wir uns die Zukunft vorstellten, was wir uns von ihr erhofften und erwarteten. Was wir ihnen nicht gesagt haben war, wie sie diese Briefe finden konnten. Wir gaben ihnen keine Hinweise darauf, wo wir sie vergraben hatten. Unser Versuch, mit unserem zukünftigen Selbst zu kommunizieren scheiterte also an Kommunikationsversagen. Welch Ironie.
Es war eine schmerzhafte Lektion, die ich lernen musste, als ich drei Stunden lang im Regen meine Hände durch die Erde wühlte und nach der verlorenen Botschaft aus der Vergangenheit suchte: Wie gut du mit Ihrem zukünftigen Selbst kommunizieren kannst, wirkt sich direkt auf deine Fähigkeit aus, als Mensch zu funktionieren – und auf dein persönliches Wachstum.
Ich mache mir im Unterricht Notizen, damit mein zukünftiges Ich sie beim Schreiben einer Arbeit lesen kann. Ich trage Termine in den Kalender ein, damit mein zukünftiges Ich weiss, was an einem bestimmten Tag geschieht. Ich lege meine Schlüssel in den Schlüsselkasten, damit mein zukünftiges Ich sie mitnehmen kann, wenn er das Haus verlässt.
Natürlich kann es kompliziert werden. Manchmal ist es schwer, sich in das Zukunfts-Ich hineinzuversetzen. Wie beim Tabu-Spielen, wo mir immer wieder der gleiche Fehler passiert: Ich sehe ein Wort und platze gleich mit allem heraus, was mir dazu in den Sinn kommt. Das bringt der Person, die das Wort erraten muss, genau nichts. Eine viel bessere Strategie wäre es, sich in diese Person einzufühlen und darüber nachzudenken, was sie hören muss, damit das Wort vor ihrem inneren Auge erscheint.
Aber es ist aufwändig, sich ständig in diese Person einzufühlen, die noch gar nicht existiert. Wenn ich doch zurzeit genug um die Ohren habe, wieso sollte ich mich noch um das Zukunfts-Ich kümmern? Der Komiker Jerry Seinfeld beschrieb dies treffend: Der Nacht-Typ bleibt lange draussen und schert sich nicht um die Kopfschmerzen und Augenringe am nächsten Tag – denn das sind die Probleme des Morgen-Typen.
Vielleicht lag der Nacht-Typ ja richtig, dass er nicht an den nächsten Tag dachte. Vielleicht hatte er die beste Zeit seines Lebens. Wenn ich also meine Schlüssel nicht finde – versuche ich, nett zu meinem früheren Ich zu sein. Wahrscheinlich hatte gerade alle Hände voll zu tun.
Hey, Zukunfts-Roman, wenn du das liest: Ich hoffe, es geht dir gut und ich hoffe, du bist stolz. Diese Website, dieser Blog, ich tue das für dich. Sorry, dass meine Handlungen so oft keinen Sinn ergeben. Ich gebe mein Bestes.